Zum neuen Jahr
Mit dem letzten der
108 Glockenschläge
um Mitternacht
beginnt in Japan die
Neujahrsfeier.
Sie dauert drei Tage.
Silvesternacht in Tokyo. 108 Glockenschläge hallen weithin hörbar durch die nächfliche Stadt. Es sind~die Klänge der Tempelglocken, die die 108 Leiden verursachenden Begierden des Menschen symbolisieren sollen. Jetzt sind sie Vergangenheit. Mit dem letzten Schlag genau um Mitternacht beginnt o-shogatsu, eine nationale Dreitages-Neujahrsfeier. Drei Tage, an denen das geschäftliche Leben im sonst so arbeitswutigen Japan zum Erliegen kommt. Firmen, Sanken, Kon-zerne und kleine Geschäfte haben ge-schlossen. Stattdessen wälzen sich riesige Menschenmassen, von einem großen Polizeiaufgebot durch Megaphone in Bahnen gelenkt, durch die buddhistischen Tempel und shintoistischen Schreine.

Zum neuen Jahr fordern die Götter ihren Tribut. Sie werden besänftigt mit Un-mengen von Geldspenden. Scheine und Münzen lassen die Opferstöcke überquellen. Mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen erbittet man ehrfürchtig Gesundheit, Glück und Erfolg ,In neuen Jahr, während Bündel von Räucherstäbchen ihren parfümierten Geruch verströhmen und eine unwirkliche Atmosphäre schaffen. Zu der hier vermeintlich ernsthaften Religion gesellt sich auch eine ge-
hörige Portion Aberglaube. Verschiedene Glücksbringer vom letzten Jahr, »Jahres-pfeile« und Amulette, haben ausgedlent und werden zurückgebracht. Dafür wird, zum Wohle derTempelkas-sen, reichlich neu gekauft. Horoskopzettelchen, die, nachdem man vom Inhalt Kenntnis genommen hat, fein säuberlich und geschickt um Zweige oder Zäune he-rumgefaltet werden. Motivtäfelchen aus Holz, die auf einer Seite mit den eigenen, persönlichen Wünschen für das neue Jahr beschriftet werden können, werden zu Hunderten aufgehängt, und klappern leise im Wind. Talismänner für alle privaten Wünsche können käuflich erworben werden. Ein paar mit Nummern versehene Stäbchen werden in einem rechtecki-gen, länglichen Kästchen einmal kräftig durchgeschüttelt. Die gezogenen Num-mern verweisen auf die. persönliche Jahreslösung oder ergeben die Glücks zahlen fürs neue Jahr. Die »mikos«, sogenannte Schreinmädchen, rot-weiß ge-kleidet und mit filigranem Haarschmuck, haben hinter den Verkaufstheken alle Hände voll zu tun. Auffallend viele Frau-en In prächtigen Kimonos verieihen der riesigen -Menschenmasse angenehme Farbtupfer. Das Traditionsgewand aus sehr teuren Stoffen, bestickt oder aus Sei-de, gilt als Statussymbol und wird meist nur noch zu festlichen Anlässen wie die-sem getragen. Die Zugangswege zu den Tempeln sind gesäumt von zahlreichen Imbissbuden. Im Angebot: »Jahreswechselnudeln«, fritiertes Hühnerfleisch, japanische Pizza, verschiedenes Meeresgetier gebraten, gegrillt, gekocht kleine Spießchen mit Fleisch oder Tofustückchen, Süßigkeiten und Sake, der klare japanische Reiswein. Die lockere Festatmosphäre in und um die Tempelanlagen lassen den grundlegenden Unterschied zu westlichen Religionen spürbar werden. Der Manager, der während des Gebets von seinem piepsen-den Handy gestört wird, tritt zur Seite und eriedigt die geschäftliche Angelegen-heit., Mbelt und Erfolg sind ehrenwert und werden zu religiösen Maximen erho-ben. Tempel als Wallfahrtsstätten für weltlichen Wohlstand. Tatsächlich sind Japaner in religiösen Fragen tolerant und praktizieren in der Mehrzahl Shintoismus und Buddhismus gleichzeitig. Benötigt man Trost und Hilfe, wendet man sich eher an einen buddhistischen Tempel, während man Gesundheit oder Glück im Shinto-Schrein zu erflehen pflegt. Der Shintoismus die ursprüngliche Religion Japans, gründet auf einen Mythos. Uber die Entstehungdes Landes und des japanischen Volkes, letztlich über die di-
rekte Abstammung des japanischni Kaiserhauses voll der Sonnengöttin Amaterasu. Im »Shinto« (Weg der Götter) ,werden außerdem Naturerscheinungen wie Sonne, Wasser, Felsen oder Bäume verehrt. Die nationalistischen Tendenzen begünstigten in der Geschichte Japans immer wieder Bestrebungen, den Shintoismus zur Staatsreligion zu erheben. So haben die meisten Feiertage shintoisti-schen Ursprung und es finden im Jahreslauf eine ganze Reihe Feste statt, die nach bestimmten Ritualen begangen werden.

Im Hinblick auf die große Kinder-freundlichkeit Japans sind zwei Feierlichkeiten von Bedeutung. Das Puppenfest am 3. März ist den Mädchen gewidmet. In Jedem Haushalt, zudem ein oder mehrere Mädchen zählen, wird ein treppenförmiger Stand aufgebaut auf dem kunstvoll Puppen arrangiert werden. Darunter eine Nachbildung des Kaiserpaares in, Seidenbrokatgewändem, sowie der gesamte Hofstaat. Zwei Monate später, am 5. Mai, schmückt die Miniaturnachbildung einer Samurai-Rüstung, umrahmt von Puppen japanischer Helden, das Heim und wird zu Ehren von Jungs aufgestellt Mut und Kämpfertum, die Tugenden der Samural-Krieger, sollen dabei als Vorbild für die heranwachsenden Söhne dienen. Eine Nebenströmung des Buddhismus, die injapan große Bedeutung erlangt hat ist der Zen-Buddhismus. Im kargen KIosterleben der Zen-Mönche stehen Meditation und Askese im Mittelpunkt. In stundenlanger, bewegungsloser Versenkung in einer bestimmten Sitzhaltung soll die »Erleuchtung« des Einzelnen erreicht werden. Durch paradoxe Fragen eines Zen-Meisten, die mit rationalem Verstand nicht beantwortbar sind, soll logisches Denken und damit die Bindung an die »falsche Welt« der Begierden und des Leids aufgehoben werden. Der Zen-Buddhismus beeinflusst bis heute die kulturelle Eiitvdddung Japans und kommt auch in vielen Zen-Gärten zum Aus-druck. Der Lehre gemäß, wonach jedes Einzelding in sich vollkommen ist und zu gleich das Ganze repräsentiert, werden
die Gärten fein säuberlich angelegt. Kiesbeete werden zu wogenden Meeren geharkt, auf denen Felsbrocken wie Inseln ruhen Die Schlichtheit und Ruhe, die sie austrahlen, sollen den meditierenden Zenjüngern auf der Suche nach der Erleuchtung hilfreich sein. Da der Shintoismus ohne Glaubensbekenntnis und Gebote auskommt und der von den meisten Japanern locker gehandhabte Buddhismus dem lustvollen Leben nicht entgegensteht, haben diese Religionen nicht den strengen Einfluss, wir es im westlichen Kulturkreis der Fall ist. Vielmehr werden das alltägliche Handeln und die zwischenmenschlichen Beziehungen von einer dritten Kraft, dem Konfuzianisinus, stark geprägt. Die zutiefst humane Philosophie des Chinesen Konfuzius greift wirksam in das gesellschaftliche Leben ein und bestimmt das harmonische Zusammenleben in einer geordneten Gesellschaft. Moral, Gehorsam, Geduld und Höffichkeit beeinflussen so seit Jahrhunderten den japanischen Lebenstil. Dies wird zum Beispiel sichtbar an dem zu Begräßungen gehörenden Verbeugungstitual. Die Tiefe der Verneigung wird dabei vom persönlichen, gesellschaftlichen oder geschäftlichen Verhältnis zueinander bestlint. Der in der Hierarchie tiefer stehende - bei Unklarheit darüber hilft eine zuvor ausgetauschte Visitenkarte mit dem beruflichen Status - hat sich unbedingt tiefer zu verbeugen als sein Gegenüber. Wundersame Szenen sind zu beobachten. Punks, die mit ihrem schrillen Aussehen eigentlich ,Protest signalisieren, verbeugen sich artig vor einem Autofahrer, der anhält, um sie an einem Zebrastreifen über die Straße zu lassen. So beschränkt sich Andersartigkeit auf eine Art »Dampf ablassen«. Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft bleibt erhalten. Der einzelne Mensch, lebenslänglich eingebettet in Gruppenbeziehungen von Familie, Schule, Firma und Vereinen, empfindet den Verlust dieser Sicherheit als schwere Strafe, als existentielle Bedrohung. Neben diesem Verhaltenskodex des traditionellen Japans bestimmen auch immer mehr westliche Verhaltensmuster den japanischen Alltag. Im Straßenbild von Großstädten sind alle Modeerscheinungen die man auch in USA oder Europa antrifft, teilweise verschärft vertreten. Grell geschminkte ,junge Mädchen mit gewagten Miniröcken, die Höhe der Plateausohlen auf eine bizarre Spitze getrieben, und die allgegenwärtigen mikrokleinen Handys sind Zeugen einer supermodernen, urbanen Gesellschaft. Für feucht-fröhliche Vergnügungen al- 1er Art ist bestens gesorgt und sie entschädigen für die oft sehr beengten Wohnverhältnisse. Mit glitzernden Fassaden und in allen Farben blinkenden Neonschriftzeichen, mit blechernen Computerstimmen aus plärrenden Lautsprechern werben Diskotheken und Musikkneipen, Geisterbahnen, Karaoke-Bars und Patchinko-Hallen lautstark um Besucher. Doch haben die Japaner im Umgang mit der lärmenden Moderne eine leidenschaftliche Gelassenheit entwickelt. Der gnadenlose Geräuschpegel der Großstädte wird so in unwirkliche Ruhe getaucht. Der trippelnden, schiebenden, gestressten Masse Mensch fehlt jegliche Agressivität. Dabei wird an Lebensqualität nicht gespart. So geben sich Japaner, ausgemachte Gourmets auch gerne kulinarischen Genüssen hin. Der Insellage des Landes entsprechend kommt der Großteil der Grundnahnmgsrnittel aus dem Meer. So werden neben vielerlei Fischen auch Algen, Seetang, Muscheln und Garnelen verzehrt. Eine Besonderheit ist der rohe Fisch, der in Scheiben geschnitten zuvor in eine Gewürzmischung aus Sojasoße und Wasabi (meerrettichartige, scharfe Wurzel) getunkt wird. Da Fett und Fleisch seltener vorkommen, erfüllt die japanische Küche nach moderner Ernährungslehre alle Anforderungen an eine gesunde Küche. Dem großen Harmoniebedürfnis der Japaner entspwcbend ist Essen auch immer eine farbenprächtige Augenweide. Und das nicht nur zur Neujahrszeit.

Eberhard Schmid ist Mitarbeiter im Anzeigensatz der Schwarzwälder Bote Mediengesellschaft mbh.



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